2016 ging das Bild eines winzigen, total abgemagerten nigerianischen Kindes durch die Medien, dem eine blonde Dänin eine Plastikflasche an den Mund hält. Dass hinter dem Bild und seiner Verbreitung eine wohltätige Organisation samt Spendenkontonummer stand, leuchtet ein. Dass es sich bei dem Kleinkind, das von der Organisation offenbar gerettet wurde, um ein von seiner Familie verstoßenes „Hexenkind“ handelte – das verstört.

„Hexenkinder“ – ein Wort, das wie eine Erfindung der Boulevardmedien klingt. Doch „Skolombo“, so nennt man diese Kinder in Nigeria, gibt es tatsächlich. Drei Jahrhunderte nach dem Zeitalter der Aufklärung existieren immer noch und an vielen Orten auf der Welt „Hexen“. Es gibt immer noch Hexenverfolgungen, sogar Folter und Ermordungen sind dokumentiert.

Das katholische Hilfswerk Missio, das im Kampf gegen den Hexenwahn sehr engagiert ist, hat eine Weltkarte erstellt: Fast der komplette globale Süden ist rot markiert. In Lateinamerika, Südostasien und besonders in Afrika laufen heute noch besonders Frauen, aber auch Kinder und Männer Gefahr, als Hexen stigmatisiert, gefoltert oder getötet zu werden.

Ein Bild, das 2016 die Öffentlichkeit erschütterte: Dieses Kind wurde von seiner Familie verstoßen. Die Angehörigen glaubten, es sei ...
Ein Bild, das 2016 die Öffentlichkeit erschütterte: Dieses Kind wurde von seiner Familie verstoßen. Die Angehörigen glaubten, es sei verhext. | Bild: www.landofhope.global

In unserer vernunftgesteuerten Welt gibt es Orte, an denen ein so krasses Phänomen von Aberglauben, ein Kosmos voller Geister, Dämonen und eben Hexen alle Mühen der Aufklärung überlebt hat. Das wirft ein beunruhigendes Schlaglicht auf den vermeintlichen zivilisatorischen Sicherheitsabstand, den wir zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit einzuhalten glauben. Wie solide oder wie dünn ist eigentlich die soziokulturelle Decke, die wir über diese dunkle Welt gebreitet haben?

Es sind Organisationen wie Unicef und SOS-Kinderdörfer, die immer wieder auf die schlimme Lage von Kindern, besonders armen Kindern in vom Krieg betroffenen Gebieten, hinweisen. Viele Berichte lesen sich als Nachrichten aus der Vorhölle, etwa wenn es um die Demokratische Republik Kongo geht, wo allein in der Hauptstadt über 20.000 Minderjährige auf der Straße leben sollen. Der dortige Leiter der SOS-Kinderdörfer geht in Kinshasa von ein- bis zweitausend als Hexen bezichtigten Kindern pro Jahr aus. Kinder würden mit Feuer, Schlägen oder Nahrungsentzug „gereinigt“, wenn Nachbarn oder sogar Eltern sie für besessen hielten.

Schwester Lorena pflegt ein Folteropfer: Die 78 Jahre alte Teno wurde der Hexerei beschuldigt. Über die in Papua-Neuguinea tätige ...
Schwester Lorena pflegt ein Folteropfer: Die 78 Jahre alte Teno wurde der Hexerei beschuldigt. Über die in Papua-Neuguinea tätige Ordensfrau hatte die Fotografin Bettina Flitner Zugang zur Dorfgemeinschaft erhalten. | Bild: BETTINA FLITNER

Zuverlässige Daten und belastbare Zahlen zum Phänomen aktueller Hexenverfolgungen sind allerdings nicht zu finden. Forschung gibt es so gut wie gar nicht. Das Hexenwesen in Archiven zu studieren, kann Spaß machen und von Historikern und Ethnologen begrüßt werden.

Weniger lustig ist es, in solchen verlorenen Weltwinkeln Feldforschung zu betreiben, in denen unliebsame Gäste gern selber als verhext deklariert werden und dann in echter Gefahr schweben. Wer aber einen Weg findet, dort zu forschen, spürt schnell, dass die Menschen dort keine Forscher brauchen. Eher Hilfe. Leider spielt der Wissenschaftler, der zugleich Aktivist ist, in seiner Gemeinschaft schnell keine Rolle mehr.

So kommt es, dass sich selbst seriöse Medien in ihrer Berichterstattung hauptsächlich auf die Angaben von Aktivisten stützen müssen. Hier aber findet man beliebige Zahlen. Von Hunderten bis zu Zehntausenden von Betroffenen reichen die Schätzungen allein in Zentralafrika. Wobei schon der Begriff „betroffen“ schwammig ist. Wenn Kinder in Nigeria für schlechtes Wetter, Missernten, krankes Vieh oder Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht und als verhext gebrandmarkt werden: Sind sie betroffen, wenn man sie „nur“ einem einfachen Exorzismus unterzieht? Oder müssen sie erst Anbindung, Aussetzung, Folter oder Ermordung erleiden?

Weder kennt der UN-Menschenrechtsrat das wahre Ausmaß der Hexenverfolgung noch kann die zuständige Fachabteilung der EU auf valide Quellen zurückgreifen. Zwar stimme es, heißt es in einem Bericht der EU, dass „Berichten zufolge die Zahl der Vorwürfe der Kinderhexerei zunimmt“, doch es sei „nicht möglich, Gesamtstatistiken oder verlässliche Schätzungen zur Anzahl der Vorfälle im Zusammenhang mit Vorwürfen der Kinderhexerei bereitzustellen“.

2500 Frauen in Indien als Hexen getötet

Immerhin spricht vieles dafür, dass dieses Phänomen tatsächlich existiert – und dass seine Ausmaße größer und schlimmer sind, als wir es uns ausmalen könnten. Es kommt nicht von ungefähr, dass Regierungen in dieser Weltregion während der letzten Jahrzehnte spezielle Gesetze gegen Hexenverfolgung erlassen haben. Länder, die den Vereinten Nationen angehören und die wirtschaftlichen Beziehungen zum globalen Westen unterhalten, mussten auf unangenehme Nachfragen ihrer Handelspartner reagieren. Das taten sie mit Gesetzen – die allerdings zu oft nicht umgesetzt werden.

So gibt es seit Juli vergangenen Jahres in Ghana ein Anti-Witchcraft-Gesetz, nachdem zwei Jahre zuvor eine alte Frau als „Hexe“ gelyncht worden war. Nigeria, wo das Problem ebenfalls weiter besteht, hat schon 2008 ein einschlägiges und offenbar wirkungsloses Gesetz erlassen. Im indischen Bundesstaat Assam ist seit 2015 die Bezichtigung der Hexerei untersagt. Bestraft wird mit bis zu drei Jahren Haft, wer vermeintlich Besessenen körperliche und seelische Schäden zufügt. Dieses Gesetz gilt innerhalb Indiens als das schärfste gegen Hexenverfolgung.

Eine weitere Szene aus dem Dorf, von Bettina Flitner fotografisch festgehalten: Dorfbewohner versammeln sich vor der Hütte, in der eine ...
Eine weitere Szene aus dem Dorf, von Bettina Flitner fotografisch festgehalten: Dorfbewohner versammeln sich vor der Hütte, in der eine vermeintliche Hexe nach Folterung gepflegt wird. Ein Mann fordert die anwesende Ordensschwester auf, der Patientin keine Medikamente zu geben. | Bild: BETTINA FLITNER

Der Assam Witch Hunting (Prohibition Prevention and Protection) Act ist – erstaunlich genug – nicht das Resultat menschenfreundlicher Politik, sondern verdankt sich einer einheimischen Aktivistin, Birubala Rabha. Die Frau, die aus einem abgelegenen Dorf stammt, in der man an Hexen und schwarze Magie glaubt, kämpfte jahrzehntelang gegen die Hexenjagd. Ihr nicht ungefährliches Engagement brachte Rabha eine Nominierung für den Friedensnobelpreis ein. Und doch werden in Indien regelmäßig Frauen wegen angeblicher Hexerei zu Tode geprügelt, seit 2000 über 2500 Frauen, sagt die indische Polizei. Solche Zahlen sind allerdings sehr grobe Schätzungen, schon weil viele Fälle nicht gemeldet werden.

Eine Weltgegend, über die man dank Missio Aachen etwas besser über Hexenglauben und Hexenwahn Bescheid weiß, liegt im Südpazifik nördlich von Australien. In drei Provinzen von Papua-Neuguinea sind zwischen 2016 und 2019 über 350 „Vorfälle“ in Zusammenhang mit Hexerei dokumentiert, in jedem zweiten wurde, meist an Frauen, Gewalt ausgeübt. 2013 wurden zwei als Hexen beschuldigte Frauen verbrannt beziehungsweise enthauptet. In einigen Fällen sind es die nächsten Verwandten, welche die Opfer beschuldigen und verfolgen. Neben Angst ist auch Neid auf Besitz ein Tatmotiv.

Missio Aachen hat eine Fotoausstellung zum Thema „Hexenjagd“ organisiert und den „Internationalen Tag gegen Hexenwahn“ ins Leben gerufen. Dass sich ausgerechnet ein katholisches Missionswerk hier öffentlichkeitswirksam engagiert, hat auch mit der Mitschuld christlicher Missionsarbeit an diesem Phänomen zu tun. Missionare nutzten (und nutzen zum Teil heute noch) die im Volksglauben tief verwurzelte Angst vor Dämonen und Hexerei, um sie mit dem biblischen Satan zu verbinden. Gerade die Ende des 20. Jahrhunderts in Afrika sehr erfolgreichen neuen Pfingstkirchen griffen die Ideen des Hexenglaubens freudig auf – und boten ihre Dienste als Exorzisten an.

Dämonenglauben, religiöser Fanatismus, Armut, Unwissenheit, Krankheiten und miserable medizinische und soziale Bedingungen bilden in solchen abgelegenen Gegenden dieser Erde offenbar den Nährboden für solch mörderischen Hexenwahn. Doch wenn man aus dem „Westen“ mit einem Finger auf den globalen Süden zeigt, zeigen mindestens fünf Finger zurück: Pandemien, Global Warming, Umweltkatastrophen, soziale Umbrüche im Zusammenhang mit der Globalisierung – das sind nur einige der dramatischen globalen Veränderungen, die von den hoch entwickelten Industrieländern ausgehen.

Und wenn diese Umwälzungen schon dort zu politischen Verwerfungen und Weltuntergangsstimmung führen – wie sollen erst die ärmsten und schwächsten Länder vernünftig reagieren?